Blake stellte die letzte
Kiste auf den kleinen Tresen der als Küche in meinem neuen Appartement diente.
Die Kolben und Gläser darin klirrten leise. „Das war die letzte Miss Mit…Miss Baker“
sagte er. Ich sah ihn an und plötzlich überwältigte mich die Trauer. Mister
Blake schien für mich zum großen Symbol meines alten Lebens geworden zu sein,
die letzte Bastion die Stella Mitchell noch verteidigt hatte. Nun war es Zeit
auch diese Bastion aufzugeben. Stella Mitchell würde einfach verschwinden und
nie wieder irgendwo auftauchen. Mein Loft in Hamburg, der Toyota BMW-Dienstwagen,
mein Labor und die zwei mal drei Wochen Urlaub in Frankreich oder Hawaii. Das
alles war von jetzt an Vergangenheit. Das einzige Bindeglied dass es noch gab
war Blake.
Ich hatte Eric Blake vor zwei Jahren kennen gelernt, als ich
zur ICBMB, der angesagteste Konfrenz der Biochemiker und Molekularbiologen nach
Seattle eingeladen gewesen war. Die Konferenz hatte vier Tage gedauert und
Blake war mir von Bicson Biomedical einer Tochterfirma von Cross Applied
Technology zugeteilt worden.
Nachdem eine AR-Sitzung ausgefallen war und ich eine
erfolgreiche Präsentation zu feiern gehabt hatte, waren wir im Eye of the
Needle gelandet, einem wirklich guten Restaurant in der Kuppel der Spaceneedle.
Wir hatten einen tollen Tir-Wein getrunken und ein sündhaft teures Essen
gehabt. Blake war ein absoluter Profi. Er begleitete mich, unterhielt sich mit
mir und hatte doch den Anstand mir nicht an die Wäsche zu wollen.
Nach dem ICBMB war es für mich steil bergauf gegangen.
Zuerst war man bei Cross auf meine Arbeiten aufmerksam geworden und auch bei
Evo, Horizon und Ares hatten sie mich auf den Schirm bekommen Ich bekam ein
verdammt gutes Angebot von Leviathan Technical einem Entwickler für Cyber- und
Bioware und Tochterunternehmen von Ares. Den Zuschlag bekam letztlich die
Evo-Korporation ein Unternehmen das erstens zu den zehn größten Unternehmen der
Welt gehörte und zweitens aus meiner Sicht die humansten Ideale verfolgte.
Ich wurde dort direkt als stellvertretende
Supervisorin des Enticklungsrats für das Gebiet Europa eingestellt und wurde
somit Aufsichtsrat bei Evo Synthetech, dem Entwicklungsmotor der
Evo-Corporation. Ich bekam ein schickes Loft in Hamburg, lernte Deutsch und krämpelte die ärmel für Evo hoch.
Das wiederum passte meinem Chef, dem Leiter der
Entwicklungsabteilung überhaupt nicht. Er war in dem Punkt etwas cleverer als
ich, jedenfalls glaube ich das, obwohl ich es nicht beweisen kann. Irgendwann meldete
sich die Rechnungsabteilung bei mir und wurde von zwei Mitarbeitern der
Evo-Sicherheit begleitet. Es hieß es habe Unregelmäßigkeiten in meinem Resort
gegeben, unklare Zahlungen müssten geprüft werden. Ich sei bis auf weiteres
beurlaubt. Ich bekam ein Flugticket und drei Wochen Wellnesurlaub in Neuseeland
verordnet damit ich niemandem in die Prüfung pfuschen konnte.
Ich war ganz klassisch abserviert worden. Eigentlich hätte
ich es wissen müssen. Meine Arbeiten und Ideen waren nachhaltiger als alles was
meine Kollegen zu bieten hatten, ich war der Shootingstar der Biowareforschung,
da ich es geschafft hatte die Immunantworten durch autonome, polymorphe
Oberflächenantigen Produktion soweit zu minimieren, dass die psychosystemische
Stress für den Implantatempfänger deutlich reduziert wurde. Wahrscheinlich
konnte man mit dieser Therapie, wenn man sie zur Anwendungsreife brachte die
Gefahr von Cyberpsychosen deutlich reduzieren. Das alles war dermaßen
bahnbrechend, dass mir ohne Übertreibung schon bald die Tore zu den ganz großen
Schlüsselpositionen offen gestanden hätten nicht umsonst hatten sich mehrere
Tripple-A-Konzerne um mich bemüht.
Wie auch immer mein Ex-Chef Lazerus Kazantsev erkannte
sofort dass ich eine enorme Gefahr für seine Position darstellte und daher bin
ich überzeugt dass er hinter der Untersuchung steckte. Ich war nicht
vorbereitet gewesen und viel zu naiv an die Sache heran gegangen. Plötzlich
ging es darum meine Freiheit zu retten. Veruntreuung von Firmengeldern war kein
Kavaliersdelikt. Zumal es angeblich um eine Summe 1,3 Millionen neuen Yen ging.
In Wahrheit hatte ich gerade mal zwanzigtausend Nuyen gespart.
Blake, der offenbar auch einige Kontakte zur Schattenszene
hatte, organisierte mir davon eine Abstellkammer von Wohnung in Seattle, ein
neues Comlink und vor allem eine SIN die von der Originalbesitzerin
offensichtlich nicht mehr gebraucht wurde. Zuzüglich einiger Dinge die man zum täglichen
Leben brauchen konnte, wie Klamotten, einer VR-Brille und einem Chemiebaukasten
blieben mir nun genau 805 neue Yen, welche ich unter meinem neuen Namen
Sarah-Josephine Baker ausgeben konnte.
Blake riss mich aus meinen Gedanken: „Was werden Sie jetzt
anfangen Miss Baker?“ Es klang für mich ungewohnt das Miss Baker. Ich zuckte
die Achseln: „Ich habe keine Ahnung Mr. Blake, aber ich denke dass einer
halbwegs gebildeten Frau schon was einfallen wird.“ Ich lächelte und versuchte
Zuversichtlich auszustrahlen über die ich allerdings aktuell nicht verfügte.
Er erwiederte dass Lächeln kurz und für einen Moment hatte
ich das Gefühl von einem sorgenvollen Vater oder zumindest einem älteren Bruder
gemustert zu werden bevor er mich auf meine erste College-Party gehen lässt.
Einige Augenblicke sahen wir uns an. Dann sagte er: „Sie müssen vorsichtig
sein, Miss Mitchell, das hier ist eigentlich keine Gegend für jemanden wie Sie.
Sie sollten Sicherheitsvorkehrungen treffen und sich vielleicht eine Waffe
anschaffen.“
Ich nickte: „Danke, Mr. Blake, ich werde mich vorsehen.“
Blake aber schien noch nicht am Ende seiner Ausführungen zu
sein: „Tragen sie am besten etwas mit Kapuze. Schauen sie den Leuten auf der
Straße nicht in die Augen, viele hier verstehen das als Provokation. Meiden Sie
abgelegene und schlecht einsehbare Orte und halten Sie stets Ausschau nach
Deckungsmöglichkeiten.“
Wohlgleich ich mich schon etwas vor der Gegend fürchtete
fand ich es doch rührend wie Mr. Blake sich um mich sorgte. Darum hörte ich ihm
so aufmerksam zu wie ich konnte, ich wollte nicht unhöflich sein. „Oh, und
bleiben sie mit ihrer neuen SIN von der Innenstadt weg, die meisten ernsthaften
Nachforschungen werden sie schnell enttarnen. Aber für die Metro und den
Stuffer-Shack reicht es.“ Er lächelte abermals und ich bedankte mich. Wir verabschiedeten
uns mit einer Umarmung. Ich war schon lange nicht mehr sein VIP den er
beschützen musste. Ich war nur noch eine gute Bekannte mit der er einmal zu
Abend gegessen hatte. Er schärfte mir noch einmal ein ihn die nächsten drei
Monate nicht anzurufen damit man nicht die neue Anruferin in seinen
Telefonprotokollen ausfindig machen und mit dem Zeitpunkt meines Verschwindens
in Zusammenhang bringen konnte.
Nachdem Blake gegangen
war machte ich mich daran meine Habseligkeiten auszupacken. Eine Reisetasche
mit einigen Klamotten, mein Kommlink und einige Dinge die ich aus dem Labor
hatte mitgehen lassen. Es reichte nicht um als echtes Labor durch zu gehen,
aber vielleicht konnte ich ja irgendwelchen Kids Nachhilfe geben. Sie hätten in
Biologie, Biochemie und Chemie wahrscheinlich in hundert Jahren keine bessere
gefunden als mich.
Ich betrachtete meine neue Bleibe. Es handelte sich um ein 25qm Appartement. Wer
rein kam stand im Wohnzimmer und konnte sich entweder nach rechts dem
Badezimmer zuwenden, oder quer durch das Wohnzimmer und dann rechts in die
Küche gehen. Es gab keinen Balkon und im Wohnzimmer hatte gerade mal ein
Schlafsofa Platz. Ich versuchte einige Male die wenigen Besitztümer die ich
hatte so zu arrangieren dass es nicht ganz so trostlos aussah.
Irgendwann meldete sich mein Magen zu Wort. Ich hatte den
ganzen Tag noch nichts gegessen.
Also zog ich meine Panzerkleidung an. Es handelte sich um
eine auf Motorradleder getrimmte Jacke und eine ebensolche Hose und machte mich
auf den Weg. Das Haus indem meine Wohnung lag war in der Pinestreet erbaut
worden, einem Stadtteil mit dem Namen South Tacoma. Das Besondere an dem
Viertel war dass sich niemand, dafür zu interessieren schien. Weder die
Konzerne noch die Polizei, noch nicht einmal die Gangs. Zumindest behaupteten
dass die Ergebnisse meiner kleinen Matrixrecherche.
(Herangezogen wird
Computer plus Logik plus Modifikatoren: Logik 6 plus 2 Zerebralbooster-Würfel,
plus Computer 1 und Spezialisierung „Matrixsuche“ plus 2. Das macht in der
Summe 11 Würfel gegen ein Limit von 8. Würfelergebnisse 1,1,1,2,3,3,3,3,4,5 und
6. Gerade mal 2 Erfolge, aber es genügt um grundlegende Informationen über die
Gegend zu bekommen und rauszukriegen wo’s was zum Essen gibt.)
Etwa einen Kilometer von meiner Wohnung weg gab es die
Tacoma-Mall, einen alteingesessenen
Tempel der Konsumgesellschaft. Malls waren
zwar irgendwie pervers, aber man konnte dort viel Zeit totschlagen. Also lenkte
ich nach der Navigation meines Komlinks meinen Weg zu eben jener Mall. Ich lief
dabei über die parallel zur Pine Street verlaufende Oakes Street. Diese war
deutlich belebter als die Pine und bot daher ein höheres Maß an Sicherheit. Es
war noch nicht sehr so spät und die meisten Läden hatten noch geöffnet. Beim
Betreten der Mall hatte meine neue SIN ihren ersten Härtetest. Das
Scannersystem der Mall erfasste das Komlink jedes Besuchers und glich es mit
den zugänglichen Kaufdaten des Besitzers ab um ihm dann passende Werbung vor
den Latz zu knallen.
(Das Mall-System würfelt mit der doppelten Systemstufe, also 6 Würfeln gegen den Schwellenwert von 3, was der Stufe der gefälschten SIN entspricht. Es fallen 1,2,3 und 5,5,5! Also drei Erfolge. Das System meldet das irgendwas mit der Sin von Sarah-Josephine Baker nicht stimmt und empfiehlt eine genauere Überprüfung. Der Spielleiter legt jedoch fest, dass der das System betreuende Decker bereits im Feierabend ist. Vielleicht sieht er ja morgen den Eintrag des Systems in der Liste der besonderen Vorkommnisse und wird die SIN dieser Miss Baker noch mal genauer unter die Lupe nehmen, vielleicht ist es ihm aber auch egal solange heute Abend kein Notfall eintritt. Zunächst kann sich Sarah frei in der Mall bewegen.)
Ich ließ mir etwas Zeit mich an die neue Situation zu gewöhnen. Die ursprüngliche Sarah Baker schien eine Sportskannone gewesen zu sein. Jedenfalls flashten jede Sekunde Werbungen für Turnschuhe, Tennisschläger und Homefitnessgeräte und Urban-Brawl-Tickets durch ihr Sichtfeld. Mit meinen Augen konfigurierte ich die Brille so, dass Werbung vorerst ausgeblendet wurde. Lediglich Nahrungsmittel ließ ich anzeigen und bekam auch sofort ein Angebot für den nächsten Bangkok Hut und einen Cap‘n Beef. Die Thailänder warben mit Lunchmenüs bis 17:30 Uhr für gerade mal 7 Nuyen und Cap’n Beef hatte neben aztlanischen Chickenburgern, einzeln 3 Nuyen und im Menü gerade mal 5 Nuyen, auch noch eine Gewinnspielaktion im Angebot. Oh Mann, die alte Sarah schien ja einen erlesenen Geschmack gehabt zu haben. Einen Cap’n Beef hatte ich zuletzt in meinem ersten Semester am College von Innen gesehen. Ich hatte beisher eher in gehobenerren Läden gegessen. Ich überlegte. Stella Mitchell, die im Bosco's einen italienischen Salat bestellte und dabei den Verkehr im Hamburger Hafen beobachtete, gab es nicht mehr. Es gab nur noch Sarah Baker, die sich von Fastfood ernährte und mit dem Kauf von Sportgeräten versuchte ihre Figur zu retten oder zumindest ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen.
Ich entschied mich für Chicken-Sate im Bangkok Hut. Noch 798 Nuyen.
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